Wirtschaftswachstum sinkt in diesem Jahr auf 0,5 Prozent – Starker Binnenkonsum kann schwache Nachfrage aus dem Ausland noch abfedern – Globale Konflikte und Unsicherheiten lasten auch auf der weltweiten Konjunktur – In Deutschland sollte eine nachhaltige Investitionsagenda den Standort zukunftssicher machen und den sozialen Zusammenhalt stärken
Deutschlands wirtschaftliches Fundament bröckelt bedenklich: Die Produktionsleistung der auf den Export spezialisierten deutschen Industrie sinkt seit nunmehr einem Jahr deutlich. Es fehlt vor allem die Nachfrage aus dem europäischen Ausland – allen voran aus dem Vereinigten Königreich und Italien. Bisher stützt eine kräftige Binnennachfrage die Wirtschaft: Dank der günstigen Beschäftigungsentwicklung und der Finanzspritze für die privaten Haushalte zu Jahresbeginn – beispielsweise mit der paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung oder der Erhöhung des Kindergelds – weiteten diese ihren Konsum kräftig aus. Auch die Unternehmen investierten zumindest im ersten Vierteljahr noch rege in den Ausbau ihrer Produktionskapazitäten, und die Bauwirtschaft vermeldete erneut einen Rekord bei den Auftragsbeständen. Allein deshalb rechnet das DIW Berlin in diesem Jahr überhaupt noch mit einem Wirtschaftswachstum von 0,5 Prozent. In den kommenden beiden Jahren dürften sich – vorausgesetzt die erheblichen politischen Risiken materialisieren sich nicht – die Wachstumsraten mit jeweils 1,4 Prozent in etwa in der Größenordnung des Trendwachstums bewegen.
Grafik: DIW Berlin
Auch weltweit lasten erhebliche Risiken auf der Wirtschaft
Das Fundament des Wachstums hierzulande bröckelt vor allem wegen der großen wirtschaftspolitischen Risiken. Neben dem weiter eskalierenden Handelskonflikt zwischen den USA und China sind es aber vor allem die Probleme vor der eigenen Haustür, die auf der Konjunktur lasten. Bei einem No-Deal-Brexit droht im kommenden Jahr sogar ein Wachstumseinbruch in der Größenordnung von 1,1 Prozentpunkten in Großbritannien, 0,2 Prozentpunkten im Euroraum und 0,4 Prozentpunkten in Deutschland, haben Berechnungen am DIW Berlin ergeben. Auch die Weltwirtschaft schwächt sich ab. Wächst sie in diesem Jahr noch um 3,7 Prozent, werden es in den beiden kommenden Jahren nur noch 3,6 beziehungsweise 3,5 Prozent sein.
Die Unsicherheiten und Konflikte lasten auf der globalen Investitionsgüternachfrage und treffen damit Deutschland besonders hart. Auch hierzulande scheinen die UnternehmerInnen die Zuversicht zu verlieren: Im zweiten Quartal brachen die privaten Investitionen in neue Maschinen, Anlagen und Fahrzeuge regelrecht ein. Die expansiv ausgerichtete Finanzpolitik der großen Koalition setzt deutliche konjunkturelle Impulse wie die weitgehende Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Insgesamt münden die im Koalitionsvertrag vereinbarten Maßnahmen in zusätzlichen Impulsen von gut fünfzehn Milliarden im Jahr 2019, zehn Milliarden im Jahr 2020 und fast 17 Milliarden Euro im Jahr 2021. Unter dem Strich schiebt der Bund das Wachstum in Deutschland um knapp 0,3 Prozentpunkte pro Jahr an.
„Um langfristig die deutsche Wirtschaft zu stabilisieren, ist eine an der Stärkung des Potentialwachstums ausgerichtete Politik nötig, die Unternehmen zu Investitionen anregt und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands erhöht.“ Claus Michelsen, DIW-Konjunkturchef
Am Potentialwachstum ausgerichtete Wirtschaftspolitik gefragt
Bisher lagen die Prioritäten auf Maßnahmen, die den Konsum stützen. Zu kurz kam eine Politik, die auf eine nachhaltige Stärkung des Produktionspotentials ausgerichtet war. Erst in jüngerer Zeit wurden die öffentlichen Investitionen deutlich gesteigert und Gesetze beschlossen, die beispielsweise Investitionen in Forschung und Entwicklung begünstigen. Eine stärker am Potentialwachstum ausgerichtete Wirtschaftspolitik ist jedoch in mehrerlei Hinsicht dringend notwendig. Eine Investitionsagenda zur langfristigen Modernisierung des Standorts würde nicht nur die Zukunftsperspektiven der Unternehmen stärken und deren Investitionsneigung unmittelbar erhöhen. Auch die Wettbewerbsfähigkeit Deutschland würde steigen, was dringend erforderlich wäre. Darüber hinaus sind Investitionen sinnvoll, die den sozialen Zusammenhalt stärken. Unser Geschäftsmodell sollte hin zu mehr inklusivem Wachstum verändert werden. Dies erfordert beispielsweise Investitionen in den Wohnungsbau oder einen besseren Zugang zu digitalen Dienstleistungen in ländlichen Räumen.
Derzeit ist die Gelegenheit günstig, diese Nachteile aufzuholen. Der Bund kann sich langfristig zu negativen Zinsen verschulden. Einer umfänglicheren Schuldenfinanzierung steht allerdings das Dogma eines ausgeglichenen Haushalts entgegen. Die schwarze Null ist für sich genommen aber keine sinnvolle Wirtschaftspolitik. Von ihr abzurücken wäre ein erster Schritt.
Kurz gesagt
Marcel Fratzscher, Präsident des DIW Berlin: „Deutschland braucht in diesen schwierigen Zeiten einen Anker der Stabilität durch ein langfristiges Investitionsprogramm der Bundesregierung. Statt sich über die niedrigen Zinsen zu beklagen, sollte die Politik diese als Chance verstehen, um klug in die Zukunft zu investieren. Wir benötigen eine Verlagerung der finanzpolitischen Prioritäten weg vom öffentlichen Konsum hin zu mehr öffentlichen Investitionen. Die Politik darf die vielen wirtschaftlichen Risiken für Deutschland nicht ignorieren, sondern sollte auch in Europa und für den Brexit mehr Verantwortung übernehmen.“
Claus Michelsen, Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am DIW Berlin: „Deutschland befindet sich zwar in einer technischen Rezession. Aber dank des kräftigen privaten Konsums und der weiterhin guten Arbeitsmarktlage wird sich diese Schwäche kurzfristig nicht zu einer Krise auswachsen. Um aber langfristig die deutsche Wirtschaft zu stabilisieren, ist eine an der Stärkung des Potentialwachstums ausgerichtete Politik nötig, die Unternehmen zu Investitionen anregt und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands erhöht.“
Simon Junker, Experte für die deutsche Konjunktur am DIW Berlin: „Die deutsche Exportindustrie leidet bereits jetzt unter der schwachen Nachfrage, die nicht zuletzt auf die von den USA ausgehenden Handelskonflikte und insbesondere den Brexit zurückgehen. Damit ist aber ein Teil der mit diesen Krisen verbundenen Anpassungsprozesse schon abgeschlossen. Treten die denkbaren Krisenszenarien nicht ein, schwenken die Ausfuhren lediglich auf einen niedrigeren Wachstumspfad ein – aber die Risiken bleiben enorm.“
Malte Rieth, Experte für die Weltwirtschaft am DIW Berlin: „Die globalen Handelskonflikte und die große Verunsicherung um den Brexit hinterlassen Spuren in der weltweiten Konjunktur – vor allem beim Außenhandel und den Investitionen der Unternehmen. In vielen Ländern stützt der private Konsum noch die Wirtschaft, dank robuster Arbeitsmärkte, expansiver Geldpolitik und finanzpolitischer Maßnahmen. Nichtsdestotrotz dürfte sich das weltweite Wachstum verlangsamen.“
Marius Clemens, Experte für Finanzpolitik am DIW Berlin: „Die bisher umgesetzten Maßnahmen aus dem Koalitionsvertrag haben kurzfristig insbesondere den privaten Konsum in Deutschland gestärkt. In Zukunft wird der finanzpolitische Spielraum allerdings deutlich enger, so dass ein langfristig orientiertes Investitionsprogramm zur Stärkung und Modernisierung der Volkswirtschaft anderweitig finanziert werden müsste.“