Vor 100 Jahren wurde das deutsche Steuersystem grundlegend umgestaltet – DIW-Studie beschreibt Änderungen, Anpassungen und neue Herausforderungen – Nach Steuersenkungen für hohe Einkommen und Vermögen stehen aktuell Verteilungsfragen im Vordergrund – Keine substanzielle Senkung der Steuer- und Abgabenbelastung in Aussicht
Als vor hundert Jahren das deutsche Steuersystem umfassend reformiert wurde, war dies der desaströsen Lage der öffentlichen Finanzen nach dem Ersten Weltkrieg geschuldet. Die „Erzbergerschen Steuer- und Finanzreformen“, die von Juli 1919 bis März 2020 durchgesetzt wurden, schufen die Grundlagen des deutschen Steuersystems, die bis heute gültig sind. Zahlreiche Reformen hat es seither gegeben, insbesondere bei Mehrwertsteuer, Energiesteuern, Unternehmensteuern und vermögensbezogenen Steuern. Doch die wesentlichen Strukturen des Steuersystems blieben bestehen. Neben den Verteilungsfragen sind Globalisierung und Digitalisierung aktuell große Herausforderungen, auf die auch steuerpolitisch reagiert werden muss. Dies sind die wichtigsten Ergebnisse einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), die die Veränderungen des deutschen Steuersystems seit dem Ende des Ersten Weltkriegs analysiert hat.
Steuerbelastung und Sozialbeiträge deutlich erhöht
„Die damaligen Reformen waren eine regelrechte Revolution – die einzige wirklich grundlegende Steuerreform, die es seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland gegeben hat. Alle wesentlichen Steuern wurden deutschlandweit vereinheitlicht, reformiert und deren Belastungen deutlich erhöht“, fasst Studienautor Stefan Bach zusammen. Lag der Spitzensteuersatz im Kaiserreich noch bei acht Prozent, wurde er nun auf 60 Prozent angehoben. Die gesamtwirtschaftliche Steuerbelastung in Deutschland wurde bis zum Jahr 1925 von acht auf 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nahezu verdoppelt, damit der Staatshaushalt konsolidiert werden konnte. Und sie stieg danach noch einmal deutlich. Seit den fünfziger Jahren bewegt sie sich meist zwischen 22 bis 24 Prozent des BIP.
„Zudem hat sich das Aufkommen der Sozialbeiträge deutlich erhöht. Im Kaiserreich hielt man gerade mal zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für ausreichend“, sagt DIW-Steuerexperte Stefan Bach. „Bis Ende der fünfziger Jahre stieg das Aufkommen der Sozialbeiträge auf über zehn Prozent, heute liegt es bei 17 Prozent des BIP.“
Die Besteuerungsgrundlagen sind komplex und wurden regelmäßig angepasst. Seit den 1950er Jahren gab es alle 15 bis 25 Jahre größere Debatten über eine „grundlegende Steuerreform“, die aber weitgehend versandeten, merkt Stefan Bach an. „Der Wunsch nach Vereinfachung ist verständlich, die Sehnsucht nach der Steuererklärung auf dem Bierdeckel weit verbreitet. Das ist aber mit den wirtschaftlichen Anforderungen und der Steuergerechtigkeit schwer zu vereinbaren.“
Größere Anpassungen seit dem Zweiten Weltkrieg
Die wesentlichen Verschiebungen im Steuersystem wurden vom wirtschaftlichen und sozialen Wandel vorangetrieben, auf den die Steuerpolitik mit zumeist graduellen Anpassungen reagierte. Größere Steuerreformen waren der Übergang bei der Umsatzsteuer zur Mehrwertsteuer Ende der 1960er Jahre, die Einkommen- und Körperschaftsteuerreformen der 1970er Jahre, die schrittweisen Einkommensteuerreformen von 1996 bis 2005, die Unternehmensteuerreformen 2001 und 2008 und die Ausweitung der Energiesteuern bis 2003.
In den letzten beiden Jahrzehnten standen (neo)liberale Agenden im Vordergrund der Steuerpolitik, getrieben durch Strukturprobleme, Internationalisierung und Steuerwettbewerb. Zuletzt spielten Verteilungsgesichtspunkte eine größere Rolle. Vor allem die hohen Belastungen der Arbeitseinkommen durch Sozialbeiträge und Einkommensteuer werden zunehmend als Problem gesehen, sowohl für die Verteilung als auch für die wirtschaftliche Entwicklung. Zur Finanzierung von Entlastungen gibt es derzeit Überlegungen, die vermögensbezogenen Steuern oder die Spitzensteuersätze zu erhöhen.
Neue Herausforderungen für das Steuersystem
Neben den Verteilungsfragen bedeuten auch Globalisierung, Digitalisierung, demografischer Wandel, Zuwanderung und Klimaschutz langfristig große Herausforderungen für die öffentlichen Finanzen. Die internationale Integration von Wirtschaft und Finanzmärkten sowie die zunehmende Digitalwirtschaft erfordern Anpassungen der Besteuerungsgrundlagen, die international koordiniert werden müssen. „Soweit aber keine größeren Einsparungen auf der Ausgabenseite der öffentlichen Haushalte durchgeführt werden, sind künftig keine substanziellen Senkungen der Steuer- und Abgabenbelastung zu erwarten“, prognostiziert Stefan Bach.
Wie diesen Herausforderungen Rechnung getragen werden kann, diskutieren am 20. November ab 17:30 Uhr am DIW Berlin die Steuerexpertin Prof. Dr. Johanna Hey, der „Wirtschaftsweise“ Prof. Dr. Achim Truger sowie die Bundestagsabgeordneten und finanzpolitischen Expertinnen Cansel Kiziltepe von der SPD-Bundestagsfraktion und Antje Tillmann von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.