Auch wenn sich derzeit ein Brexit-Abkommen abzeichnet: Mehr als drei Jahre nachdem sich die britische Bevölkerung für ein Ausscheiden des vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union entschieden hat, sind die Austrittsmodalitäten und die künftigen wirtschaftspolitischen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU weiterhin unklar.
Die anhaltende Unsicherheit belastet die deutsche Konjunktur: Berechnungen des DIW Berlin zeigen, dass das Wirtschaftswachstum in Deutschland aufgrund der Unsicherheit seit dem Referendum um durchschnittlich 0,2 Prozentpunkte pro Jahr niedriger ausgefallen ist, als es ohne Brexit-Entscheidung der Fall gewesen wäre. Insgesamt belaufen sich die Wachstumseinbußen somit auf etwa 0,8 Prozentpunkte seit Juni 2016. Ermutigend ist, dass sich nun ein Brexit-Abkommen abzeichnet. Denn eine Fortsetzung der anhaltenden politischen Hängepartie wäre nicht zwangsläufig mit weniger Wachstumseinbußen verbunden als ein harter Brexit. Ein ungeregelter Austritt Ende Oktober hätte das Wachtum in Deutschland im kommenden Jahr und im Jahr 2021 um 0,6 beziehungsweise 0,2 Prozentpunkte niedriger ausfallen lassen. Ein Abkommen würde konjunkturell die geringsten Kosten verursachen.
Die britische Bevölkerung stimmte am 23. Juni 2016 in einem Referendum für einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. Formal wurde der Austrittsprozess mit der Berufung auf Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union seitens der britischen Regierung am 29. März 2017 eingeleitet. Aufgrund der vorgesehenen Austrittsfrist von zwei Jahren sollte der EU-Austritt planmäßig am 29. März 2019 erfolgen. Da die Verhandlungen über ein Austrittsabkommen zwischen der britischen Regierung und der EU bis dahin jedoch nicht abgeschlossen wurden, beschloss der Europäische Rat, der Bitte der britischen Regierung nachzukommen und einer Verschiebung des Austritts zunächst bis zum 12. April und dann bis zum 31. Oktober 2019 zuzustimmen. Zwar kam es in den darauffolgenden Monaten zu politischen Umbrüchen innerhalb des Vereinigten Königreichs. Jedoch wurden weder in der innenpolitischen Auseinandersetzung in Großbritannien noch im Austausch mit den Vertretern der Europäischen Union weitreichende Fortschritte hinsichtlich der Austrittsmodalitäten erzielt.
Seit der konservative Politiker Boris Johnson am 23. Juni das Amt des Premierministers von Theresa May übernommen hat, ist die Wahrscheinlichkeit eines harten Brexit, also eines ungeregelten EU-Austritts ohne Austrittsvertrag, deutlich gestiegen. So kündigte Johnson nach seinem Amtsantritt umgehend an, die EU auch ohne Abkommen am 31. Oktober verlassen zu wollen, sollte bis dahin keine Einigung erzielt werden. Zwar verabschiedete das britische Parlament daraufhin ein „Anti-No-Deal-Gesetz“, nach welchem die britische Regierung eine erneute Verschiebung des Austrittdatums bei der EU beantragen muss, sollte das Unterhaus dem aktuellen Abkommen nicht rechtzeitig zustimmen. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass die Regierung – entweder unter Missachtung oder durch Abschaffung des Gesetzes – einen ungeregelten Austritt Ende Oktober oder zu einem späteren Zeitpunkt doch noch durchsetzen wird. Entscheidend ist allerdings, ob der vorgelegte Entwurf tatsächlich eine Mehrheit im britischen Parlament findet. So kündigte die Nordirische Einheitspartei (DUP) bereits an, gegen das Abkommen votieren zu wollen. Auch die oppositionelle Labour-Partei, auf deren Stimmen die Regierung ebenfalls angewiesen ist, äußerte sich umgehend nach der Veröffentlichung des Kompromisses skeptisch. Somit liegen auch nach dem erzielten Verhandlungsdurchbruch weiterhin alle möglichen Brexit-Szenarien auf dem Tisch.
Was der Brexit die deutsche Wirtschaft bislang gekostet hat
Obgleich die wirtschaftspolitischen Modalitäten bislang unverändert geblieben sind, hat die Entscheidung für einen EU-Austritt des Vereinigten Königreichs bereits gesamtwirtschaftliche Kosten auch in Deutschland verursacht. Die anhaltende Unklarheit über den Zeitpunkt des Austritts und über die konkreten Modalitäten wirkt sich dämpfend auf die Konjunktur aus, da Unternehmen und VerbraucherInnen die zukünftigen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen nur schwer abschätzen können. So führt erhöhte politische Unsicherheit beispielsweise dazu, dass Unternehmen Investitionsentscheidungen verschieben oder sogar revidieren. Zudem halten sich VerbraucherInnen in einem von Unsicherheit geprägten wirtschaftlichen Umfeld mit größeren Anschaffungen eher zurück.
Unter Verwendung eines empirischen Modells (strukturelle Vektorautoregression) werden die Auswirkungen von politischer Unsicherheit im Vereinigten Königreich auf die Wachstumsrate des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) untersucht. Mit Hilfe einer historischen Zerlegung[1] können die durch die politische Unsicherheit in Großbritannien bedingten Wachstumseinbußen in Deutschland für den Zeitraum nach dem Brexit-Referendum im Jahr 2016 berechnet werden. Die Analyse zeigt, dass aufgrund der Brexit-Unsicherheit die jährliche Expansion der deutschen Wirtschaftsleistung im Durchschnitt um je 0,2 Prozentpunkte geringer ausfiel, als dies ohne Brexit der Fall gewesen wäre (Abbildung 1).[2] Im Zeitverlauf waren dabei in den ersten anderthalb Jahren nach dem Referendum die größten Wachstumseinbußen zu verzeichnen. Dagegen trug ein vorübergehender Rückgang der beobachteten Unsicherheit während der Verhandlungen über ein Austrittsabkommen im Jahr 2018 positiv zur konjunkturellen Entwicklung bei.
Seit Beginn dieses Jahres stieg die Verunsicherung der Wirtschaftsakteure aufgrund der Ablehnung des Austrittsvertrags im britischen Parlament, der anschließenden Verschiebung des Austrittstermins sowie des Regierungswechsels in Großbritannien erneut. Dies dämpfte die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland in diesem Jahr bereits um etwa 0,3 Prozentpunkte. Insgesamt summieren sich die seit dem Referendum entstandenen Kosten der politischen Unwägbarkeiten des Brexit-Prozesses für die deutsche Konjunktur auf rund 0,8 Prozentpunkte der Wachstumsrate des deutschen Bruttoinlandsprodukts.
Ein harter Brexit würde die Konjunktur in Deutschland belasten
Sollte es doch noch zu einem ungeregelten Brexit kommen, würde das Vereinigte Königreich für die EU bei den gegenseitigen Handelsbeziehungen auf den Status eines Drittstaats zurückfallen. Dies dürfte zu sofortigen Einschränkungen der Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt und des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU führen. Vor allem der beeinträchtigte Warenverkehr dürfte die deutsche Konjunktur belasten. Wie die Berechnungen des DIW Berlin zeigen, würden bei einem harten Brexit Ende Oktober die BIP-Wachstumsraten in Deutschland im Jahr 2020 um 0,4 und im Jahr 2021 um 0,3 Prozentpunkte geringer ausfallen als im Falle eines geregelten Brexit mit Übergangsphase (Tabelle).[3] Dabei würde ein ungeordneter Brexit die deutsche Wirtschaft wohl vor allem im kommenden Jahr treffen (Abbildung 2), der negative Effekt auf die deutsche Konjunktur dürfte ab der ersten Jahreshälfte 2021 allmählich abklingen.
Tabelle: Abschläge auf das deutsche BIP-Wachstum im Falle eines harten Brexit
In Prozentpunkten
Harter Brexit | 2020 | 2021 |
Handelseffekt | -0,4 | -0,3 |
Unsicherheitseffekte | -0,2 | 0,1 |
Insgesamt | -0,6 | -0,2 |
Anmerkung: Die Wirkungskanäle eines harten Brexit wurden in zwei voneinander unabhängigen Modellen berechnet: Eine Summierung der Einzeleffekte ist daher eine Approximation des zu erwartenden Gesamteffekts.
Quelle: Michelsen et al. (2019), Brautzsch et al. (2019), eigene Berechnungen
Neben der geringeren heimischen Produktion und dem Wegfall eines Teils der Exporte ins Vereinigte Königreich dürften auch Drittländereffekte zu Wachstumseinbußen in Deutschland führen. Im Falle eines harten Brexit dürfte die Nachfrage nach deutschen Exportgütern aus anderen Ländern schwächer ausfallen. Entsprechend könnten die Zuwächse der deutschen Exporte in den Rest der Welt im kommenden Jahr um 1,3 und im Jahr 2021 um 0,8 Prozentpunkte niedriger ausfallen. Die Effekte eines ungeordneten Austritts Großbritanniens würden wohl vor allem im nächsten Jahr auf den deutschen Exporten in den Rest der Welt lasten (Abbildung 3).
Ein harter Brexit birgt zudem ein erhebliches zusätzliches Verunsicherungspotential für Unternehmen und private Haushalte, da die künftigen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen zunächst nicht durchgehend definiert sind. Wie Berechnungen zeigen, würde die jahresdurchschnittliche Expansionsrate des deutschen BIP im kommenden Jahr um 0,2 Prozentpunkte niedriger ausfallen, während im folgenden Jahr Aufholeffekte das BIP-Wachstum um 0,1 Prozentpunkten entlasten dürften (Tabelle).[4] Die gestiegenen politischen Unwägbarkeiten dürften dabei vor allem den Außenhandel – zusätzlich zu den direkten Handelseffekten in Tabelle 2 – belasten. So würden die Wachstumsraten der Exporte und Importe im Jahr 2020 um 0,5 beziehungsweise 0,6 Prozentpunkte geringer ausfallen als ohne harten Brexit, im Jahr 2021 käme es dagegen zu leichten Entlastungen von 0,3 beziehungsweise 0,2 Prozentpunkten. Die Expansion von Investitionen würde im Jahr 2020 um rund 0,3 Prozentpunkte geringer ausfallen und im Folgejahr um 0,1 Prozentpunkte zulegen.[5] Ein ungeordneter Brexit führt demnach zu kurzfristigen Wachstumseinbußen, die sich insbesondere in den ersten Quartalen nach dem Austritt niederschlagen dürften. Im weiteren Verlauf wäre dann mit leichten Nachholeffekten zu rechnen.
Fazit: Eine Verschiebung sollte, falls nötig, nur kurz sein
Insgesamt dürfte in den kommenden beiden Jahren die deutsche Konjunktur durch einen harten Brexit spürbar belastet werden. Allerdings würde es wohl nicht zu einem langanhaltenden Konjunktureinbruch oder gar einer tiefen Rezession kommen. Zwar ist dieses Szenario durch das sich abzeichnende Abkommen unwahrscheinlicher geworden. Bei den laufenden Verhandlungen sollte aber einkalkuliert werden, dass es auch bei einer erneuten Verschiebung des Austrittstermins zu Wachstumseinbußen käme. Unter der Annahme, dass sich eine Fortsetzung der politischen Unklarheiten ähnlich auswirken würde wie in den vergangenen Jahren, muss bei einer erneuten Verschiebung mit Wachstumseinbußen von rund 0,2 Prozentpunkten pro Jahr gerechnet werden. Erfolgt also eine Einigung auf das derzeitige Abkommen nicht rechtzeitig und wird dadurch eine erneute Verschiebung notwendig, sollte der Aufschub zeitlich sehr begrenzt sein, um weitere unsicherheitsbedingten Wachstumseinbußen zu vermeiden.
Fußnoten
[1] Bei einer historischen Zerlegung werden die Beiträge der innerhalb des Modells identifizierten, fundamentalen, sogenannten „strukturellen“ Schocks zur Entwicklung einer Wirtschaftsgröße zu jedem Zeitpunkt berechnet. Dadurch lassen sich die Treiber der Entwicklung einer Kenngröße im Zeitablauf nachvollziehen.
[2] Hans-Ulrich Brautzsch et al. (2019): Kurzfristige ökonomische Effekte eines „Brexit“ auf die deutsche Wirtschaft. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie.
[3] Claus Michelsen et al. (2019): Deutsche Wirtschaft: Eine Rezession ist noch keine Krise: Grundlinien der Wirtschaftsentwicklung im Herbst 2019. DIW Wochenbericht Nr. 37, 656–677 (online verfügbar).
[4] Vgl. Brautzsch et al. (2019), a.a.O. Diese Effekte auf die Jahreswachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts unterliegen der Annahme, dass die politische Unsicherheit im Falle eines harten Brexit ähnlich ansteigt wie durch die Verschiebung des Austritttermins im März dieses Jahres
[5] Vgl. Brautzsch et al. (2019), a.a.O.