Steinmeier lobt Grüne

„Die Grünen haben das Land verändert – und das Land hat die Grünen verändert. Deutschland ist offener geworden und vielfältiger, menschlicher und moderner in diesen 40 Jahren.“

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier bei der Festveranstaltung „30 Jahre Bündnis 90 und 40 Jahre Die Grünen“ am 10. Januar 2020 in Berlin:

Gnädig war es nicht gerade, das Establishment. Selbst die Süddeutsche Zeitung, kaum als reaktionäre Kampfpostille bekannt, schrieb am 15. Januar 1980: „Wer den Gründungskongreß der Grünen in allen Phasen erlebt hat, dem muß die Vorstellung, die Entscheidung über eine neue Regierung, ja gar die innen- und außenpolitische Handlungsfähigkeit einer Bundesregierung solle im Zweifel von dieser Organisation abhängen, grelle Alpträume verursachen.“

Oha: grelle Alpträume. Umgekehrt aber wäre es vermutlich für so manche Gründungsgrüne der grelle Alptraum gewesen, hätten sie gewusst, dass 40 Jahre später ausgerechnet der Bundespräsident, sozusagen das amtgewordene Establishment, zur Geburtstagsparty kommt. Auf Einladung des Vorstands! Mit Rederecht! Aber keine Sorge, Aufstehen und Hymne singen, hat mir das Protokoll versichert, wurde heute hier im Motorwerk nicht angeordnet.

Das Wichtigste also ganz am Anfang: Herzlichen Glückwunsch, liebe Frau Baerbock, lieber Herr Habeck, liebe Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen in Ost und West, im ganzen Land. Alles Gute zu diesem doppelt runden Geburtstag!

Die Grünen haben das Land verändert – und das Land hat die Grünen verändert. Deutschland ist offener geworden und vielfältiger, menschlicher und moderner in diesen 40 Jahren. Vor allen Dingen aber ist die Ökologie spätestens seit 1980 aus der Politik nicht mehr wegzudenken. Mehr noch: Ökologie und Nachhaltigkeit sind zum Maßstab von Politik geworden – auch weit jenseits dieser Partei.

Und auch die Grünen selbst sind gewachsen, gemessen nicht nur an Umfragen, Mitgliedern oder Wahlergebnissen, sondern auch an ihrem Willen, Partei zu sein und zugleich das Bild dessen aufzubrechen, zu verändern, was eine politische Partei ist und sein kann. Und gewachsen sind sie nicht zuletzt an ihrer Bereitschaft, Verantwortung zu schultern für alle Menschen in diesem Land – und für Rechtsstaat und Demokratie.

Dafür will ich Ihnen heute Danke sagen. Sie haben viel dazu beigetragen, dass dieses Land vielfältiger und moderner wird. Sie haben 40 Jahre Politik in Deutschland mitgeprägt und auch neu geprägt – anfänglich gegen heftige Widerstände in größeren Teilen der Gesellschaft. Wenn sich heute Ihre Themen in den Programmen der meisten anderen Parteien wiederfinden, muss Sie das nicht ärgern. Im Gegenteil, es ist doch ein Hinweis darauf, dass Sie Fehlstellen früher als andere erkannt und mit politischem Inhalt, mit Hartnäckigkeit und wachsender Zustimmung gefüllt haben. Für all das haben Sie meine aufrichtige Anerkennung!

Darf der das denn? Darf denn ein überparteilicher Bundespräsident einer einzelnen Partei danken? Die Frage ist berechtigt. Und bevor sich jetzt manche Journalistenstirn in Falten legt: Keine Sorge, der Bundespräsident ist und bleibt überparteilich. Aber parteiisch bin ich sehr wohl – ich glaube, ich muss es sogar sein in dieser Zeit: parteiisch für die Demokratie!

Denn auch das führt uns heute hier zusammen. Sie spüren ebenso wie ich: Dies sind Bewährungsjahre für unsere Demokratie. Wir leben in spannungsgeladenen, in hochpolitischen Zeiten. Zeiten von Dauerempörung, von wachsender Polarisierung und Verrohung, mit Hass und Hetze, insbesondere, aber längst nicht nur im Netz. Es greift eine neue Faszination des Autoritären um sich, und zugleich wächst die Ungeduld mit der Demokratie. Mit repräsentativen Verfahren können viele immer weniger anfangen. 80 Prozent der jungen Leute haben nach einer neuen Studie kein Vertrauen in Parteien.

Zehntausende von ihnen machen aber trotzdem Politik – Politik auf anderen Wegen: Sie gehen ins Internet und auf die Straße, für Klimaschutz, für die Freiheit im Netz, gegen Ausgrenzung und Rassismus.

Manche in Parteizentralen oder Gemeinderäten oder Zeitungsredaktionen – und ja, auch in Bellevue – reiben sich gelegentlich die Augen und fragen: Gräbt dieses neue Engagement unserer gewachsenen, repräsentativen Demokratie das Wasser ab? Unterspült die wachsende Skepsis gegenüber den politischen Parteien nicht das Fundament, auf dem in unserem Verfassungsgefüge so vieles ruht? Und vor allem: Wie soll die sogenannte etablierte Politik mit alledem umgehen?

Meine Antwort wäre: Schaut auf diesen Geburtstag! Schaut auf diese Partei! Ich finde, bevor wir vorschnell den Untergang der Demokratie herbeireden, lasst uns diesen Anlass nutzen und einen Blick in die Geschichte werfen.

Wenn wir nachdenken über politische Umbrüche, über die Anfechtung staatlicher Institutionen und letztlich über die Veränderungsfähigkeit, die Erneuerung von Demokratie, dann lohnt ein Blick in jene bewegte Zeit, die Gründungsphase der Grünen.

In welcher Periode bundesdeutscher Geschichte gab es je eine stärkere Sonderkonjunktur von Engagement außerhalb von Parlamenten und Parteien als damals mit den Neuen Sozialen Bewegungen? Vor allem aber: An welchem Beispiel könnte man besser verstehen, wie ganz unterschiedliche und oft genug gegensätzliche Kräfte zusammenfinden können? Wie über die Jahre aus Umwelt-, Frauen- und Friedensbewegten, aus Gruppen und Strömungen eine Partei werden konnte, die diese Demokratie befruchtet und verändert hat?

„Bäuerliche Bauplatzbesetzer vom Kaiserstuhl begegnen radikalen Feministinnen aus Köln. Militante Brokdorf-Gegner diskutieren mit Vogelschützern aus Niedersachsen. Punks mit Schlipsträgern. Kommunistinnen mit Anthroposophen.“ So beschrieb eine prominente Delegierte den Gründungsparteitag von Karlsruhe. Und ich vermute, wer von Ihnen damals dabei war, dem muss diese heutige Party, dieses Motorwerk geradezu langweilig vorkommen. Zumindest, bis die Reden vorbei sind.

Ich weiß wohl: Die große gesellschaftliche Integrationsleistung dieser Partei, in ihrer Gründungsphase ebenso wie während und nach der Wiedervereinigung, geschah nie zur Freude aller Beteiligten. So manche Hoffnung wurde enttäuscht, so manche zogen sich zurück oder gingen andere Wege. Und viele mussten sich schlicht und einfach aneinander gewöhnen: Manche revolutionserprobte Bürgerrechtlerin, gerade noch im Freiheitskampf gegen die SED-Diktatur, war – so habe ich mir sagen lassen – doch etwas verstört nach ihrer ersten Begegnung mit manchen seltsamen Westgrünen und ihren Krötentunneln.

Aber gerade jene Zeit, gerade das Zusammenwachsen von Bürgerrechtsbewegung und Grüner Partei war ein unschätzbarer Beitrag zur Deutschen Einheit. Und er begann schon lange zuvor, in Kontakten zu Dissidenten in ganz Osteuropa, in einer Zeit, in der kaum jemand solche Kontakte pflegte, in der viele, zu viele im Westen auf die offiziellen Kanäle zu Kadern und Nomenklatura pochten. Jene frühen Kontakte, die manche Grüne pflegten, waren weitsichtig. Auch dank ihnen hat das Erbe von 1989, hat der Mut der Friedlichen Revolutionäre seither einen festen Ort in der deutschen Parteienwelt – nicht nur diesen Ort, aber auch diesen Ort. Sie dürfen stolz sein auf dieses Erbe!

Im Lauf dieser 40 Jahre haben die Grünen noch eine weitere Qualität erworben, die unverzichtbar ist, wenn aus buntgescheckten Bewegungen eine starke politische Kraft werden soll: die Fähigkeit nämlich, auch schwierige Entscheidungen zu treffen, Kompromisse einzugehen, Verantwortung zu übernehmen und bei Widerstand in den eigenen Reihen auch zu tragen.

Der jüngste Parteitag der Grünen fand Ende 2019 in Bielefeld statt. Das hat mich an einen anderen Parteitag erinnert, zwanzig Jahre zuvor, ebenfalls Bielefeld. Dort flog der Farbbeutel durch den Saal, lieber Joschka Fischer, und Ihre Partei fast auseinander.

Die Grünen haben damals Verantwortung übernommen, vor der deutschen Geschichte, im Spannungsfeld von „Nie wieder Krieg!“ und „Nie wieder Auschwitz!“, und für einen Militäreinsatz auf dem Balkan gestimmt. Ja, es war ein schmerzhafter Beschluss, und ja, Sie haben damals Mitglieder und Zustimmung verloren. Ebenfalls schmerzhaft waren für die Grünen manche Kompromisse, die Sie in Regierungsverantwortung eingegangen sind, damals etwa beim Ausstieg aus der Kernenergie.

Inzwischen tragen die Grünen Verantwortung in elf Landesregierungen und koalieren mit ganz unterschiedlichen Partnern. Der Ausgleich mit den Interessen und Prioritäten anderer gehört zum Alltag. Der Kompromiss gilt nicht mehr als Verrat grüner Identität und Opposition nicht als die edlere Alternative. Jürgen Trittin hat das – in nicht untypischem Selbstbewusstsein – mal so formuliert: „Wer kann meine Ideen eigentlich besser umsetzen als ich selber?“ Wie recht er damit hatte, habe ich selbst am Kabinettstisch so manches Mal zu spüren gekriegt.

Wer Politik macht, nicht um recht zu haben, sondern um die Welt zu verändern, der muss – oft genug – die reine Lehre hinter sich lassen. Und weil die Grünen zum Verändern angetreten sind und nicht einfach zum Rechthaben – meistens jedenfalls –, sind sie gut gefahren auf dem Weg von Bielefeld nach Bielefeld – finde ich jedenfalls.

Wer auf die Geschichte der Grünen blickt, kann eine weitere Lehre kaum übersehen: Im politischen Wettbewerb tut es gut, bei aller Fähigkeit zum Kompromiss, dem eigenen Kern treu zu bleiben. Und keine Idee hat die Politik der Grünen über vier bewegte Jahrzehnte so sehr geprägt wie Umwelt und Ökologie.

Nach vierzig Jahren kann man ohne Übertreibung festhalten: Die Grünen haben die Ökologie neben dem Sozialen, dem Liberalen und dem Konservativen als vierten Fixpunkt in unserer politischen Landschaft etabliert. Ökologie war für die Grünen schon immer mehr als Umweltpolitik, es geht Ihnen bis heute um eine Veränderung der gesamten Gesellschaft, weg von der Zerstörung ihrer eigenen Grundlagen und hin zu mehr Nachhaltigkeit in allen Lebensbereichen, hin zu mehr Demokratie und Gleichberechtigung.

Mit dieser Idee haben Sie unser Land verändert – und an dieser Idee messen Sie bis heute Ihre Verantwortung für unser Land; von Randthema ist keine Rede mehr, heute muss man niemandem mehr ihre Bedeutung erklären. Aus grüner Sicht mag man darüber Genugtuung empfinden. Aber leichte Siege sind in der Politik selten.

Liebe Grüne, mit Ihrem Erfolg wächst Ihre Verantwortung! Die Verantwortung, andere Interessen nicht zu übersehen und andere Bedürfnisse nicht geringzuschätzen. Die Verantwortung, unsere Gesellschaft über das eigene Thema nicht auseinanderzutreiben, sondern zusammenzubringen. Brücken über die sichtbaren Gräben in unserer Gesellschaft zu schlagen, das muss in diesen besonderen Zeiten auch ein Anliegen der Grünen sein. Und ich weiß, dass es das ist.

Womit ich wieder im Heute bin und fragen will: Was können wir lernen aus dieser, Ihrer Geschichte für unsere repräsentative Demokratie, die unter Druck steht, und das Parteiensystem, das vielfach angezweifelt wird?

Als Bundespräsident ist mir eines wichtig: Natürlich kommt den Parteien eine besondere, eine wichtige Rolle in unserer Demokratie zu. Aber wir dürfen deshalb nicht den Fehler machen, die altgewohnte Parteienwelt mit der Demokratie an sich in eins zu setzen.

Unsere Demokratie ist wandlungsfähig, und demokratische Parteien selbst sind es hoffentlich auch. Nirgendwo steht geschrieben, dass Parteien langweilig und unattraktiv sein müssen. Ganz im Gegenteil – gerade das haben die Grünen doch bewiesen. Sie haben gezeigt, welche Veränderung, welche Erneuerung unter dem Etikett „Partei“ im Rahmen unserer Verfassung und unseres Parteienrechts möglich ist.

Ja, neue Ideen müssen sich ihren Platz im System erst zäh erstreiten. Davon können viele hier ein Lied singen. Aber unsere Demokratie, die ruft uns deutlich zu: Es gibt Platz für Neues und Erneuerung! Und jeder, der die Freiheit und Würde der anderen nicht infrage stellt, der Hass und Gewalt nicht zum Mittel der Politik macht, der darf bei uns den Weg zur Mehrheit wagen. Er muss es nur tun – und die Grünen, die haben es getan! Ihre Geschichte ist ein Beleg für die Zukunftsfähigkeit der Demokratie, und ich finde, auch das dürfen Sie heute Abend feiern.

Und die Moral von der Geschicht? Ihre Partei feiert 40. Geburtstag, die Zeitungen sind voll davon, der Bundespräsident gratuliert. Gott bewahre – gehören die Grünen nun endgültig selbst zu diesem sogenannten Establishment?

Ich habe neulich eine wunderbare Karikatur gesehen. Da steht ein König auf seinem Burgwall. Vor ihm protestieren wütende Massen und schwingen ihre Mistgabeln. Neben dem König steht ein Höfling mit Narrenkappe – heute würde man vielleicht sagen: ein Büroleiter – und raunt dem König ins Ohr: „Majestät, sagen Sie einfach: Das Establishment ist schuld! Das macht man heute so.“ Und tatsächlich, sogar gewählte Präsidenten machen das heute so.

An all die selbsternannten Kämpfer gegen das Establishment, an all die selbsternannten Kämpfer gegen das sogenannte System habe ich eine deutliche Botschaft: Wir leben nicht unter Königen und Mistgabeln. Wir leben in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Und wer diese Demokratie als System verschreit, wer sich anmaßt, einen „wahren“ Volkswillen gegen „die da oben“ zu verteidigen, wer Parlamente und freie Medien verächtlich macht, wer Hass und Hetze und sogar Gewalt gegen gewählte Repräsentanten schürt, der ist nicht einfach ein Narr, sondern der legt die Axt an das Fundament unserer Demokratie! Und deshalb müssen wir denen mit der Axt in den Arm fallen – um der Demokratie willen!

Vielleicht ist es eine besondere Ironie der Geschichte, aber diese Grüne Partei hat einen anderen, einen besseren Weg gewiesen. Sie haben dieses Land verändert, nicht weil Sie gegen das System gekämpft haben, sondern weil Sie, im Respekt vor den demokratischen Regeln, den berühmten langen Marsch durch die Institutionen gewagt haben – und ganz offensichtlich heil am anderen Ende rausgekommen sind. Ihre Geschichte zeigt: Wer die Demokratie verändern will, der muss sich als ihr Teil verstehen!

Bitte tun Sie das auch in Zukunft! Bleiben Sie neugierig! Bleiben Sie streitlustig! Behalten Sie den Blick fürs gesellschaftliche Ganze! Happy Birthday, vielen Dank und Ihnen allen eine tolle Feier!

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