Wer wusste wann was? Seit sechs Jahren ist diese Frage im Zentrum der juristischen Aufarbeitung von „Dieselgate”. Im September 2021 begann der mit Spannung erwartete Strafprozess zur Manipulationsaffäre bei Volkswagen, der wegen der Corona-Lage mehrfach verschoben werden musste.
Das Landgericht Braunschweig will die mutmaßliche persönliche Verantwortung von VW-Führungskräften für einen der größten deutschen Wirtschaftsskandale überhaupt aufklären.
Der Skandal flog im September 2015 auf, als die US-Umweltbehörde EPA über Manipulationen bei Abgastests von Dieselautos informierte. Kurz zuvor hatte VW falsche Testergebnisse eingeräumt. Wenige Tage später trat Konzernchef Martin Winterkorn zurück – eine Industriekrise ungeahnten Ausmaßes nahm ihren Lauf. Seit mehreren Jahren schon sind zahlreiche Gerichte mit der Aufarbeitung zivilrechtlicher Aspekte wie der Entschädigung von Verbrauchern oder Investoren beschäftigt. Allein für die juristischen Kosten sind bei VW mehr als 32 Milliarden Euro angefallen oder zurückgestellt worden. Mittlerweile ist ein Schadenersatz-Deal mit Winterkorn, weiteren früheren Topmanagern und Haftpflichtversicherern über eine Gesamtsumme von 280 Millionen Euro ausgehandelt.
In der Braunschweiger Stadthalle geht es um die strafrechtliche Verantwortung von VW-Führungskräften. Vier Ex-Manager stehen wegen des Vorwurfs gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs mit manipulierter Software in Millionen Autos und weiterer Straftaten vor Gericht. Der mutmaßliche Tatzeitraum reicht zurück bis ins Jahr 2006. Die Angeklagten sollen laut Staatsanwaltschaft dafür verantwortlich gewesen sein, dass Behörden und Kunden mit der unzulässigen Software getäuscht wurden. Demnach wussten die vier, dass in Dieselmotoren illegale Abschalteinrichtungen – „defeat devices” – zur gezielten Senkung von Stickoxid-Emissionen nur bei Tests eingesetzt wurden.
Nach Überzeugung der Strafverfolger haben die Angeklagten dieses Vorgehen für über 9 Millionen Autos der Marken VW, Audi, Seat und Skoda auch gewollt. Die Führungsriege soll das Programm mitentwickelt beziehungsweise die Weiterentwicklung nicht verhindert haben.
Von Beginn an richteten sich viele Fragen auch auf das Handeln oder Unterlassen des Ex-Vorsitzenden Winterkorn. Er trat zwar zurück und nahm damit eine Art allgemeine Verantwortung für das Geschehene wahr – beteuerte aber gleichzeitig, sich „keines Fehlverhaltens bewusst” zu sein. Trotzdem ist der einst bestbezahlte Manager aller Dax-Konzerne jetzt der prominenteste Angeklagte. Bisher war der in München vor Gericht stehende frühere Audi-Chef und VW-Mitvorstand Rupert Stadler der höchste Konzernvertreter. Winterkorn wird zum Prozessauftakt nicht in Braunschweig erscheinen, weil sein Verfahren aus gesundheitlichen Gründen vor dem Auftakt abgetrennt und „auf einen späteren Zeitpunkt” vertagt wurde. Gegen diese Abtrennung hat die Staatsanwaltschaft Beschwerde eingelegt.
Von der Anklage im April 2019 bis zum Prozessstart sind bereits mehr als zwei Jahre vergangen. Die zuständigen Richter verlangten zunächst ein Nacharbeiten der Staatsanwaltschaft und verschärften einige der Anschuldigungen sogar. Später wurde der Auftakt wegen der Corona-Lage zweimal verschoben. Mit einem schnellen Verfahren in Braunschweig rechnet niemand. Derzeit sind insgesamt 133 Verhandlungstage bis ins Jahr 2023 hinein geplant.